Auch die Chinesen haben einen Nostradamus - und das wurde für 2020 vorausgesagt
Es gibt eine ganze Reihe von altchinesischen Prophetietexten, die die Zukunft voraussagen. Relativ bekannt sind
- das über 2.000 Jahre alte Di Mu Jing (chin. 地母經 dì mŭ jīng "Mutter-Erde-Orakel"),
- das Tui Bei Tu (chin. 推背图 tuī bèi tú „Zurückschiebeskizze“) aus der Tangzeit,
- die 14 Prophezeiungen von Zhuge Liang (181-234) und
- das Shaobing Ge von Liu Bowen (1311-1375, chin. 燒餅歌 shāobǐng gē „Kekslied“) sowie
- ihm zugeschriebene Inschriften vom Taibai Berg.
Sie alle sind vornehmlich auf den Raum China beschränkt und werden von modernen Interpretatoren gern auf die ganze Welt ausgedehnt. Häufig werden diese mit den prophetischen Schriften mit denen des Nostradamus (1503-1566) verglichen, der in Frankreich seine Centurien in Versform niederschrieb.
Ein relativ bekannter Text dieser Prophetietexte ist das Di Mu Jing (chin. 地母經 dì mŭ jīng "Mutter-Erde-Orakel"). Man findet es in vielen chinesischen Almanachen (Tong Shus) abgedruckt. Gerne wird der unbekannte Verfasser auch als "chinesischer Nostradamus" bezeichnet. Allerdings wurde dieser Titel auch verschiedentlich den oben genannten Schriftstellern verliehen.
Im Di Mu Jing werden Aussagen getroffen, was in dem betreffenden Jahr zu erwarten ist. Der Text ist in 60 Gedichte aufgeteilt und jedes Gedicht behandelt eine Himmelsstamm-Erdzweig-Kombination des Jahres. Für das Metall-Ratten-Jahr 2020 (庚子 GengZi), speziell für die Wintermonate, sagt der Text Folgendes voraus:
Pin-Yin-Umschrift:
Gēng zi nián.
Shī yuē:
Tàisuì gēng zi nián, Rénmín duō bàozú, Chūn xià shuǐ yān liú, Qiūdōng pín jī kě.
Gāotián yóu jí bàn, wǎndào wú kě gē, Qínhuái zú liúdàng, Wú chǔ duō jiéduó.
Sāng yè xū hòu jiàn, Cán niáng qíng bù yuè, Jiàn cán bùjiàn sī, Túláo yòng xīnqiè.
Bo yuē:
Shǔ hào chūtóu nián, Gāodī duō piānpō, Gèng kàn sān dōng lǐ, Shāntóu qǐ mù tián.
Meine Übersetzung:
GengZi-Jahr.
Das Gedicht sagt:
Im Jahr GengZi sterben viele Menschen plötzlich, im Frühling und Sommer gibt es Überflutungen, häufig Hunger und Durst im Herbst und Winter.
Hoch(wasser) im Acker immer noch und er ist halb [die Ernte wird halbiert bzw. kann nur die Hälfte des Landes bestellt werden], zu später Reis kann nicht geschnitten werden, der Qinhuai [ein Nebenfluss des Jangtse] genug fließt zügellos, in [der Gegend von] Wu und Chu [gibt es] viel Plünderung.
Maulbeerblätter müssen später an Wert verlieren, die Seidenraupen fühlen sich unzufrieden, man sieht Seidenraupen, aber keine Seide ist zu sehen, vergeblich hat man sein Herzblut hineingesteckt.
Das Orakel sagt:
Die Ratte verbraucht das erste Jahr, hoch und niedrig [Rangfolge, Unterschied] ist sehr voreingenommen, schlimmer sehen die drei Wintermonate aus, auf der Bergspitze [weithin sichtbar] werden Felder von Gräbern sein.
Was ist davon 2020 eingetroffen?
Das Di Mu Jing konzentriert sich vornehmlich auf Ereignisse, die China direkt betreffen. Moderne Interpreten setzen es in Verbindung mit Weltereignissen.
Im ersten Vers ist davon die Rede, dass viele Menschen plötzlich sterben – ein Hinweis auf den Ausbruch des Corona-Virus?
Auch ist von Überflutungen im Frühling und Sommer die Rede. Und tatsächlich waren in China im August Rekordfluten in Zentral- und Südchina zu verzeichnen, die Zehntausende zwang, Ihre Behausungen zu verlassen.
Es heißt weiter, die Überflutungen würden die Ernte halbieren, besonders den Reis. Und tatsächlich wurden große Reisanbaugebiete in der Gegend des Yangtse-Flusses und seinen Nebenflüssen komplett überflutet und vernichteten dort die Ernte. Auch in anderen Teilen der Welt gab es 2020 größere Überschwemmungen aufgrund starker Regenfälle.
Im dritten Vers ist von Maulbeerblättern und der Seidenproduktion die Rede, bei der die ganze Mühe zunichtegemacht wurde. Zur Zeit der Entstehung des Gedichts war dies ein wichtiger Wirtschaftszweig für China. Sicherlich führten die Überflutungen zu einem Einbruch der Wirtschaft, allerdings hat sich China relativ schnell davon wieder erholt. Weltweit hingegen ist die Wirtschaft 2020 aufgrund der Corona-Pandemie stark eingebrochen.
Der letzte Vers ist ein Kommentar des Gedichts. Die Ratte ist der Erdzweig des Jahres. Mit „erstes Jahr“ ist wahrscheinlich der Umstand gemeint, dass die Ratte das erste der Tiere im Zwölf-Jahres-Zyklus ist. Somit könnte dies heißen, dass uns eine Reihe ähnlicher Jahre bevorsteht. Der Begriff hoch und niedrig kann sich auf einen Unterschied in der Rangfolge beziehen, der sich verschärft. Ist hier das Aufklaffen der Schere zwischen Arm und Reich gemeint?
Der letzte Teil des Kommentars spricht explizit von den drei Wintermonaten, in welchen sich weithin sichtbar die Zahl der Todesfälle erhöht. Mit den Wintermonaten sind nach dem chinesischen Kalender der November, Dezember und Januar gemeint. Für China selbst trifft das bislang nicht zu, denn die strengen Maßnahmen der chinesischen Regierung haben zu einer Eindämmung der Pandemie geführt. Allerdings sind die Coronazahlen und demnach auch die Todesfälle weltweit im letzten Quartal 2020 nochmals stark angestiegen.
Wie stichhaltig sind die Aussagen eines "chinesischen Nostradamus"?
Die Texte sind Jahrhunderte alt, in kryptischer, gereimter Form und schwer übersetzbarem Altchinesisch geschrieben. Zudem wurden die Texte für das Ursprungsland selbst verfasst und sind stark auf das Land und die Verhältnisse im kaiserlichen China gemünzt. Die Übertragung auf moderne Verhältnisse lässt daher einigen Interpretationsspielraum. Wie die Texte des französischen Nostradamus übrigens auch!
Immer wieder hat man versucht, einzelne Textpassagen aus diesen Schriften mit historischen Ereignissen zu verknüpfen, so beispielsweise bei Liu Bowens Shaobing Ge, das beispielsweise auf die Invasion Chinas durch die Japaner bezogen wurde. Der letzte Teil des Shaobing Ge ist allerdings so verschlüsselt geschrieben, dass man sich bisher die Zähne an einer Zuordnung ausgebissen hat.
Das tangzeitliche Tui Bei Tu ist ähnlich wie das Di Mu Jing in 60 Gedichte aufgeteilt, die sich jeweils auf eine Himmelsstamm-Erdzweig-Kombination (JiaZi) beziehen. Damit kann also das jeweilige Jahr gemeint sein. In diesem Fall träfe für das Metall-Ratten-Jahr 2020 das Gedicht Nr. 37 zu. Andere interpretieren den Text allerdings so, dass dieses Gedicht den Fortgang geschichtlicher Ereignisse seit seiner Entstehung abbilde. Nach Erfüllung eines Gedichtes würden die Ereignisse des darauffolgenden Gedichts eintreten. Nach dieser Sichtweise hätten wir damit bereits Gedicht Nr. 56 erreicht, das als nächstes eintreffen sollte.
Ich werde auf alte Prophezeiungen für das kommende Jahr des Metall-Ochsen näher in meinem Buch mit meiner Jahresprognose für 2021 eingehen.
Verblüffend bleibt für 2020 allerdings, wie genau der Text aus dem Di Mu Jing die Vorkommnisse im Jahr der Metall-Ratte 2020 vorweggenommen hat. Bleibt zu hoffen, dass sich der letzte Teil der Prophezeiung nicht erfüllen wird!